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Mohamed Hassan - Zum Tode verurteilt in Kafkastan

29.03.2015

Zum Tode verurteilt in Kafkastan

Übersetzung von Mohamed Hassan - Sentenced to Death in Kafkastan

Wenn Sie Franz Kafkas Roman "Der Prozess" gelesen haben, werden Sie die Bedeutung des Begriffs "kafkaesk" verstehen. Der Protagonist des "Prozess", ein Bank-Angestellter namens Josef K., wird plötzlich festgenommen und muss sich selbst gegen Anklagen verteidigen, die ihm völlig unbekannt sind - uns es auch bleiben. Im Laufe der Zeit erfährt er, wie schwierig es ist, einer Bürokratie entgegenzutreten, die vom Totalitarismus durchdrungen ist.

Ein Jahrhundert, nachdem "Der Prozess" geschrieben wurde, hat die Menschheit selbstverständlich alle Formen von Totalitarismus und Bürokratie ausgelöscht. Unschuldige werden nicht mehr vor Gericht gestellt. Auf der ganzen Welt gilt ein effizientes Rechtssystem. Der folgende Traum, den ich nach dem Lesen des Romans hatte, ist eine Erfindung meiner Fantasie. Jede Ähnlichkeit, die er mit der Realität haben könnte, ist einzig und allein ein Fehler der Realität.

Wir kommen im Gerichtssaal an. Der Richter betritt den Raum und der Gerichtsdiener erklärt das Verfahren für eröffnet. Der Richter setzt sich und beginnt von einem Blatt vorzulesen: "Nach Untersuchung der Beweise, die die Staatsanwaltschaft und die Angeklagten vorgebracht haben, erklären wir die Angeklagten für schuldig im Sinne der Anklage. Wir verurteilen die Angeklagten 1, 2 und 3 zum Tode für den vorsätzlichen Mord an einem Polizisten. Wir verurteilen die Angeklagten 4 bis 11 zu einer lebenslänglichen Gefängnisstrafe für Beihilfe zum Mord an einem Polizisten. Darüber hinaus empfehlen wir dem Innenministerium, die Staatsbürgerschaft der Angeklagten 1 bis 8 wegen terroristischer Verbrechen zu widerrufen. Die Sitzung ist hiermit beendet."

Wachen eskortieren die Angeklagten aus dem Gerichtssaal hinaus. Ihnen werden Handschellen angelegt und sie werden zu einem Bus mit verdunkelten, vergitterten Fenstern geführt. A., der Angeklagte Nr. 3, sitzt auf der Ecke eines Zweiersitzes. Nahe einem Fenster auf der gegenüberliegende Seite des Busses sitzt ein Mann. Der Wächter läuft durch den Bus und zählt die Gefangenen. Als er an A. vorübergeht, lächelt er kurz. Der Typ auf der gegenüberliegenden Seite bemerkt es. Er sagt zu A.: "Ich weiß nicht, wofür du verurteilt wurdest, aber dies ist das erste Mal, dass ich einen von ihnen lächeln sehe. Was ist deine Geschichte?"

A. antwortet monoton: "Ich habe nichts getan."

Der andere erwidert: "Nun, ich glaube dir." A antwortet: "Warum solltest du einem Typen in Handschellen trauen? Und darf ich fragen, wie dein Name ist?" Der andere lächelt und entgegnet: "Wir tragen beide Handschellen, und ich würde niemandem in diesem Bus trauen, der keine trägt. Mein Name ist H. und ich weiß, dass du unschuldig bist."

"Was macht dich da so sicher?" fragt A. "Dass deine Körpersprache kein Zeichen von Reue zeigt", entgegnet H. A stößt einen tiefen Seufzer aus und sagt: "Könnte meine fehlende Reue nicht auch ein Zeichen dafür sein, dass ich tatsächlich getan habe, wofür ich verurteilt wurde?" H. antwortet in einem sarkastischen Ton: "Die, die wirklich schuldig sind, zeigen keine Reue für ihre Tat; sie bereuen, dass sie entdeckt wurden. Du hingegen zeigst für keins von beiden Reue: du bist ein ." "Was ist ein Muselmann?" fragt A.

H. beantwortete die Frage nicht: "Das ist eine lange Geschichte. Vielleicht werden wir dafür Zeit haben, falls wir im selben Gefängnisblock landen. Bist du zum ersten Mal im Gefängnis?" "Es ist mein drittes Mal", entgegnet A.

"Für mich ist es das erste Mal", sagt H. "Ich wurde schuldig befunden, Hass gegenüber dem Regime zu schüren." A fragt: "Und wie sollst du das getan haben?" H. antwortet: "Ich verkaufe Worte. Ich bin ein Schriftsteller." A ist überrascht. "Und was schreibst du? Politische Romane?" "Nein, ich habe eine Liebesgeschichte geschrieben", antwortet H. mit einem Lächeln auf dem Gesicht. "Liebesgeschichte schüren Hass? Wie ist das möglich", fragt A. "Es ist eine Liebesgeschichte zwischen zwei Menschen unterschiedlicher ethnischer Herkunft", antwortet H., "und sie findet vor der Zeit der Monarchen statt. Ihnen ist aufgefallen, dass wenn ich sage, dass Menschen fähig sind, so etwas kompliziertes wie Liebe in Abwesenheit eines Monarchen zu empfinden, dass dann alles möglich ist."

H. hält inne. "Das ist meine Geschichte", sagt er. "Darf ich nun dich bitte, mir zu erzählen, woran du unschuldig bist?" "An der Tötung eines Polizisten", sagt A. "Das tut mir leid zu hören", entgegnet H. "Ich hörte, dass das Verfahren heute stattfinden sollte." "Es ist in Ordnung. Ich habe meinen Frieden mit meinem Schicksal gemacht", sagt A. "Wie bitte? Du hast aufgegeben?" flüstert A. beklommen. A antwortet ruhig: "Ich habe nicht aufgegeben. Ich habe anerkannt, dass ich getan habe, was ich konnte, und nun kann ich nichts mehr tun."

"Du wirst akzeptieren, dass du für das Verbrechen eines anderen sterben musst? Bitte sage mir, wie wurdest du für schuldig befunden?", fragt H. "Ich habe eine unterschriebene Erklärung vorgelegt, dass ich zum Tatzeitpunkt auf der Arbeit war. Der Richter entschied, das nicht zu berücksichtigen.", berichtet A.

"Natürlich nicht.", sagt H. "Es ist leichter, jemanden schuldig zu erklären. Damit enden die Ermittlungen. Und es ist egal, wer für schuldig befunden wurde. Letzten Endes interessiert sich das Rechtssystem der Stämme nicht für das Individuum: einer "von uns" wurde ermordet, also müssen drei "von ihnen" dafür bezahlen. Die Menschen auf der anderen Seite werden jubeln. Selbst die Medien werden vergessen, irgendetwas über dich zu sagen. Du wirst von allem entledigt, was dich definiert. Du wirst als Mitglied einer bestimmten Gruppe oder Ethnie abgestempelt. Der Richter wird belohnt werden; seine Brüder und Vater werden neue Verträge bekommen, die Millionen wert sind."

A fragt: "Warum hast du dann nicht zuvor darüber geschrieben?" H. entgegnet: "Es ist illegal. Ich wäre wegen Verleumdung einer staatlichen Behörde verurteilt worden."

"Das ist nun egal", sagt A. "Ich hoffe, es wird sich etwas ändern, bevor mein Urteil vollstreckt wird." H. ist wütend: "Und du glaubst, jene die den Mord tatsächlich verübt haben, werden diese Veränderung bringen? Siehst du denn nicht, dass sie Wörter wie Mut, Würde, Widerstand, Prinzipien und weitere verwenden, um ihre Taten zu legitimieren, aber es zugleich geschehen lassen, dass ein Unschuldiger für ihre Verbrechen getötet wird?" A. antwortet gleichermaßen wütend: "Woher willst du wissen, dass sie tatsächlich etwas falsches getan haben?" "Weil sie selbst eine Stellungsnahme abgegeben, dass es so ist", sagt H. "Neulich war ein Blogger mit in meiner Zelle. Er erzählte mir, dass er für etwas verhaftet wurde, das andere gefordert hatten; die selben Leute, die üblicherweise seine Freilassung befürworten würden. Aber sie zeigen sich nicht und sagen nicht, wer verantwortlich ist. Eine noch extremere Gruppe wird definitiv nicht die Vorwürfe gegen dich ausräumen."

Als der Bus hält und die Wachen aufstehen, um die Gefangenen hinauszubringen, wendet sich H. ein letztes Mal an A.: "Versprich mir etwas: Gibt nicht auf. Lass nicht zu, dass sie dich zu einer weiteren Zahl in ihrer Statistik machen. Zeigen ihnen allen, dass du ganz wie sie bist, dass du das selbe siehst wie sie, dass du fühlst wie sie, dass eine Mutter in Trauer zurückbleibt wenn du stirbst, dass dein Leben nichts ist, was man gegen politischen Gewinn eintauschen darf."

Diese Geschichte ist, wie ich sagte, rein fiktional. Es gibt kein Land auf dieser Erde, dass unschuldige Menschen zum Tode verurteilt. Und es gibt keinen Mann, der zum Tode verurteilt wurde und nun auf seine Rettung wartet.


Veröffentlicht unter der Creative Commons Lizenz "Attribution 3.0 Unported" (CC BY 3.0)

Der Text nimmt Bezug auf die derzeit laufende Eilaktion von Amnesty International für 10 Männer in Bahrain, die in einem unfairen Verfahren zum Tode bzw. zu lebenslanger Haft verurteilt wurden. Bitte setzen Sie sich für Sie ein:

Zum Tode verurteilt:

  • ALI ABDULSHAHEED AL-SANKIS
  • SAMI MIRZA MSHAIMA'
  • ABBAS JAMIL TAHER MHAMMAD AL-SAMEA

Zu lebenslanger Haft verurteilt:

  • AHMAD JAAFAR MHAMAD 'ALI
  • 'ALI JAMIL TAHER MHAMAD AL-SAMEA
  • TAHER YOUSSIF AHMED MHAMAD AL-SAMIE
  • HUSSEIN AHMAD RASHED KHALIL
  • REDHA MIRZA MSHAIMA'
  • HUSSEIN SABAH ABDULHUSSEIN
  • AHMAD M'TOUQ IBRAHIM